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»Leichenfledderer sind wir alle«

»Leichenfledderer sind wir alle.« Die Palimpseststruktur in Walter Moers’ Der Schrecksenmeister

von Gerrit Lembke

»stat rosa pristina nomine,
nomina nuda tenemus.«
(Umberto Eco: Il nome della rosa)

»Words disappear.
Words once so clear
Only echoes passing through the night.«
(The Greenhornes: There is An End)

Einleitung: Literatur als Echo

Gerrit Lembke: Walter Moers (2011)
Gerrit Lembke: Walter Moers (2011)

Hinter dem gebräuchlichen Kurztitel Schrecksenmeister verbirgt sich ein in barocker Umständlichkeit schwelgender Langtitel: Der Schrecksenmeister. Ein kulinarisches Märchen aus Zamonien von Gofid Letterkerl. Neu erzählt von Hildegunst von Mythenmetz. Aus dem Zamonischen übersetzt und illustriert von Walter Moers. Damit folgt der Verfasser seinen Inszenierungsgewohnheiten aus Ensel und Krete (2000) und Die Stadt der Träumenden Bücher (2004), wo Walter Moers nicht als ›Verfasser‹, sondern als ›Übersetzer‹ eines zamonischen Textes hervortritt, wobei die Medialität literarischer Autorschaft in Der Schrecksenmeister um eine Stufe erhöht wird, indem eben nicht – wie bei in den genannten Romanen – Mythenmetz als ursprünglicher Autor fungiert, sondern wiederum nur als Mediator eines weiter zurückliegenden Märchens von Gofid Letterkerl (ein Anagramm von Gottfried Keller). Dieser wurde bereits in Die Stadt der Träumenden Bücher erwähnt: »Gofid Letterkerl war einer meiner [d. i. Hildegunst von Mythenmetz; G. L.] Lieblingsschriftsteller. Er hatte Zanilla und der Murch geschrieben, das allein machte ihn in meinen Augen unsterblich.« (STB 206). Von dem realen Autor Walter Moers muss die fiktionale Figur eines gleichnamigen Übersetzers unterschieden werden, wobei reale und die fiktionale Ebene literarischer Kommunikation durch die Namensidentität miteinander spielerisch verwoben werden: Der Übersetzer Walter Moers ist eben nicht identisch mit dem realen, gleichnamigen Verfasser. Der Text ist also innerfiktional nur ein literarisches Echo dritter Stufe, das auch realiter auf anderen Texten basiert, indem es sich im Rahmen einer ›literarischen Evolution‹ in verschiedenen Reihen positioniert: »Ein Kunstwerk wird wahrgenommen auf dem Hintergrund und auf dem Wege der Assoziierung mit anderen Kunstwerken. Die Form des Kunstwerks bestimmt sich nach ihrem Verhältnis zu anderen, bereits vorhandenen Formen.«*

Der Schrecksenmeister steht innerhalb verschiedener literarischer Reihen und evoziert somit verschiedene Erwartungshorizonte, vor denen er sich postiert. Dabei handelt es sich zunächst um die Reihe der Texte, die unter dem personalen label ›Walter Moers‹ laufen, und dabei vor allem um diejenigen, die auf dem fiktiven Kontinent Zamonien spielen sowie schließlich um einen einzelnen Text, der eine kurze Reihe mit Der Schrecksenmeister bildet: Gottfried Kellers Märchen von Spiegel, dem Kätzchen, das in den Novellenzyklus Die Leute von Seldwyla integriert ist. Beide Reihenzugehörigkeiten werden explizit im Roman genannt: Querverweise in Fußnoten deuten auf die anderen Zamonien-Romane hin (SM 117 u. 136) und die Anspielung auf Gottfried Keller ist im leicht zu enkodierenden Anagramm des fingierten Verfassers ›Gofid Letterkerl‹ unübersehbar. Um diese beiden Reihen soll es in diesem Beitrag gehen. In dem Zusammenhang soll der Palimpsestcharakter von Der Schrecksenmeister im Hinblick auf drei literarische Reihen bzw. Epitexte untersucht werden: Als reales Palimpsest überschreibt der Text sowohl Kellers Novelle als auch Moers’ Zamonien-Romane, als fiktives Palimpsest im Kontext der Herausgeberfiktion überschreibt er Gofid Letterkerls zamonisches Original. Real ist das Palimpsest insofern, dass der Überschreibungsakt ein Effekt einer realen Kommunikationsinstanz (der reale Walter Moers) ist, während die fiktiven Palimpseste von fiktiven Figuren (Hildegunst von Mythenmetz, Walter Moers als Übersetzer) stammen.

*Viktor Sklovskij: Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetfügung und den allgemeinen Stilverfahren. In: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Hg. u. übers. v. Jurij Striedter. München 1971, S. 37–121, hier S. 51.

 

Bibliografische Angabe:
Gerrit Lembke: »Leichenfledderer sind wir alle.« Die Palimpseststruktur in Walter Moers’ Der Schrecksenmeister In: Walter Moers’ Zamonien-Romane. Vermessungen eines fiktionalen Kontinents. Hg. v. Gerrit Lembke. Göttingen: v&r unipress; 2011, S. 305–326.

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